Universität Sofia
Bildquelle WikipediaDie Mai-Unruhen in Paris und die Studentenproteste in Westberlin 1968 wirkten in Bulgarien wie das laute Dröhnen eines über den kapitalistischen Westen herfallenden Orkans. Der volle Umfang und Sinn der sozialen Proteste und deren politisches Potential blieben bis heute unentschlüsselt.
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Konsumgüter des Westens
Die Ereignisse in der Tschechoslowakei vom August 1968 waren nur das Vorspiel. Wird der Prager Frühling Früchte tragen, die auch bei uns keimen werden, oder wird der Frost des russischen Winters alles einfrieren? Wir, in Bulgarien, hatten ein mulmiges Gefühl. Während in Polen, Rumänien und selbst in der glorreichen UdSSR ein vernichtender Konsumgütermangel herrschte und sich der „Gulaschkommunismus“ in Ungarn scheu den Weg bahnte, war in Bulgarien ein einmaliges Experiment der kommunistischen Macht im Gange.
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In den Supermärkten blühte das Angebot an Lebensmitteln geradezu auf, in den Schaufenstern der Modegeschäfte glitzerten attraktive Modelle, und auf Bulgariens Straßen fuhren immer mehr westliche Limousinen. Die über Jahre unterdrückten Privatunternehmen erwachten zu neuem Leben.
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Dieses umfangreiche Experiment, damals „neue Wirtschaftspolitik“ genannt, war natürlich nur mit der schweigenden Zustimmung Moskaus möglich. „Das kleine Bulgarien kann auf der Suche nach einem neuen Gesellschaftsmodell zwar scheitern, es kann aber die Sowjetunion und den sozialistischen Ostblock nicht in Gefahr bringen. Die politische Macht in Sofia ist in den festen Händen des treuesten Moskau-Verbündeten – der Bulgarischen Kommunistischen Partei“ – so argumentierte man damals in der Hauptstadt des Weltsozialismus.
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Ende der Reformversuche
Die Weltjugendfestspiele gingen zu Ende, in Sofia kehrte der Alltag des realen Sozialismus zurück und keine Woche später hallte es: Die Truppen des Warschauer Paktes marschieren in Prag ein! Bulgarische Truppen mit eingeschlossen! Das Echo vom Ende des Prager Frühlings erreichte Bulgarien über Umwege – aus Moskau. „Keine Experimente mehr! Schluss mit jeglichen Reformversuchen ohne Anweisung aus Moskau!“
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Alles kehrte zum alten Trott der fossilen zentralisierten Planwirtschaft zurück. Die erwachte Privatinitiative wurde schnell wieder eingemottet, das Füllhorn hatte ein Ende. Für die meisten Bulgaren bedeutete das Jahr 1968 keine Wende zum Besseren. Im Gegenteil: 1968 warf uns in eine düstere und bedrückende Realität zurück, ohne einmal begreifen zu können, dass in der Welt etwas Neues geboren war. Es sollte erst 21 Jahre später triumphieren.
Alexander Vladkov,
einer der bekanntesten bulgarischen Radiojournalisten. 1983 bis 1988 und 1993 bis 1998 arbeitete er als Korrespondent in Bonn. Er war der erste Generaldirektor des öffentlich-rechtlichen Bulgarischen Nationalen Rundfunk (BNR) nach der Wende von 1989.
Quelle: Goethe Institut
Montag, 3. November 2008
Das Ende eines Experiments
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